Skip to main content

Von Isabel Schönfelder (Text & Fotos) und Konstantin Klenke (Daten)
Lesedauer: ca. 7 Min.

Gerd packt an. Mit einem Bein nach dem anderen steigt er in den weißen Einmal-Anzug, steckt seine Arme durch die Ärmel, streift den flattrigen Stoff über die Schultern, zieht den Reißverschluss hoch. Von Kopf bis Fuß in Einmalstoff gekleidet, beginnt für ihn der Kontrollgang durch den Hähnchenstall.

Er öffnet die Stalltür, ein Schwall heißer Luft schlägt ihm entgegen: Drinnen herrschen 32 Grad. Es riecht süßlich-würzig nach feuchtem Stroh und Futterresten. Gerd scheint das nichts auszumachen. Ununterbrochen piept es aus allen Ecken, 25.000 Küken wuseln durch die riesige Halle. In der Haltungsstufe 3 können sie sich hier ausbreiten.

Der 21-Jährige lässt einen prüfenden Blick über die Halle schweifen: Läuft die Heizung? Arbeiten die Ventilatoren? Liegen verletzte Tiere am Boden? Er beugt sich hinunter zu den Wasserleitungen, prüft ob die kleinen Schälchen gefüllt sind, hört auf das Rasseln der Futterspender – für ihn das Signal, dass alles funktioniert. Nach einer halben Stunde ist sein Kontrollgang vorbei. Er streift den Anzug ab, schmeißt ihn in eine Tonne, wäscht sich die Hände.

„Die Landwirtschaft liegt mir einfach im Blut“, sagt Gerd. In die Wiege gelegt wurde ihm ein Hof aber nicht. Gerd ist kein Landwirt, der einen Hof geerbt hat. Der 21-Jährige sucht aktiv nach einem Betrieb, den er in den kommenden Jahren übernehmen kann. Denn: Er will sich dem Höfesterben entgegenstellen. „Das ist mein Herzensanliegen.“

Damit trifft er einen Nerv: Zwei Drittel der deutschen Höfe haben keine geregelte Nachfolge. Schon heute sind fast 40 Prozent aller Hofleitungen älter als 55 Jahre.

Wenn die Kinder den Hof in Zukunft nicht übernehmen, müssen Betriebe dicht machen. Sie werden von einem Großbetrieb aufgekauft. Oder eine Person außerhalb der Familie übernimmt. So wie Gerd.

Suche: Hof, biete: Mut

Gerd liebt das Landleben: „Mir macht die Arbeit Spaß, ich mache das gerne mit den Tieren, ich bin gerne an der frischen Luft, fahre gern Trecker. Und dass die ganze Familie zusammen ist, dieses idyllische Familienleben“, sagt er. Aktuell durchläuft er die zweijährige Fachschule zum staatlich geprüften Agrarbetriebswirt. Seit sieben Jahren arbeitet er nebenbei auf dem Hähnchenhof der Familie Fangmann in Friesoythe, eine halbe Stunde nördlich von Cloppenburg. Mittlerweile sein zweites Zuhause – aber eben nicht sein Hof.

Um seinem Traum vom eigenen Hof näher zu kommen, wurde der 21-Jährige kreativ. Es ist Mittagzeit an einem Sommertag im vergangenen Jahr, als er am Esstisch sitzt und Kleinanzeigen öffnet. „Einfach mal auf gut Glück“, erinnert sich Gerd. Zwischen Angeboten für ausgerümpelte Gartenmöbel, Kinderkleider oder Holzschränke inseriert er: „Hofnachfolger Landwirtschaft“. Ein Klick, die Anzeige ist online.

„Die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe nimmt stetig ab – oft, weil keine Nachfolge gefunden wird. Ich möchte dem etwas entgegensetzen.

Aktuell besuche ich die Fachschule für Agrarwirtschaft und suche einen landwirtschaftlichen Betrieb, den ich in Zukunft mit Verstand und Engagement weiterführen kann. (…)

Ich bitte drum, da sich die Anfragen überschlagen, dass sich nur Betriebe in einem Umkreis von 50km melden! LG“

„Wir suchen Nachfolge für kleinen Biomilchbetrieb. Könnte auch erstmal Mitarbeit sein.“

„Hallo, komm doch vorbei, ich habe einen Schweinemast Betrieb“

„Wir suchen eine/n Nachfolger/in, der/die Freude daran hat, diese Bereiche mit Eigenverantwortung weiterzuführen und aktiv eine lebendige Höfegemeinschaft zu gestalten. (…) Schick uns doch bitte eine kurze Vorstellung von Dir, sowie einen Nachweis über dein Eigenkapital“

„Hallo, ich suche für meinen Betrieb einen Nachfolger. Konkrete Vorstellungen habe ich noch nicht, müsste sich ergeben.“

„Hallo wir haben Interesse, könnten sie sich bitte telefonisch direkt melden, danke“

„Danach stand mein Telefon nicht mehr still“, erzählt er. Als die erste fremde Nummer auf seinem Display aufblinkte, stieg Nervosität auf: „Ich war ganz überfordert, was frage ich da überhaupt – die hatten mich direkt eingeladen, vorbeizukommen.“ Noch nervöser sei er bei der ersten Besichtigung gewesen, doch von Mal zu Mal kehrte Gelassenheit ein.

Bei einem Hof war die Familie sofort begeistert: „Die hatten Tränen in den Augen und meinten, meine Anzeige sei für sie wie ein Lottogewinn gewesen.“ Ohne zu zögern, boten sie ihm Einblick in ihre Finanzen an. „Am liebsten hätten sie mich vom Fleck weg genommen und direkt am nächsten Tag angestellt.“

Gescheitert ist es in diesem Fall, wie bisher meistens, an der Distanz: „Mein Maximum wären eigentlich 30 Kilometer Entfernung, weil ich hier in der Gegend bleiben möchte.“ Gerd ist hier verankert mit Freunden, Schützenverein, Landjugend, Oldtimerverein und den Fangmanns.

Hofübergabe? Nicht von heute auf morgen

Doch selbst wenn der Ort passt, braucht eine Hofübergabe Zeit. Drei bis fünf Jahre können dabei vergehen, sagt Christian Vieth. Dafür gründete der Agrarökonom die Hofbörse „Hof sucht Bauer“ – wie eine Dating-App für Bauernhöfe. Die Landwirte erstellen ein Profil ihres Hofs – Größe, Anbauart, Viehzucht – für interessierte Nachfolger wie Gerd. Die Mission dahinter: Möglichst viele landwirtschaftliche Betriebe erhalten.

Seit 1995 hat sich die Anzahl der Höfe in Deutschland halbiert – von mehr als einer halben Million auf rund 255.000 Betriebe.
Gleichzeitig hat sich die bewirtschaftete Fläche kaum verändert. Immer mehr Großbetriebe kaufen kleinere Höfe auf. Rund fünf Prozent der Betriebe bewirtschaften mehr als 40 Prozent der Fläche.

Wachsen oder weichen: Die EU-Agrarpolitik fördert dieses Prinzip. Denn: Je größer der Hof – desto mehr Zuschläge gibt es. Die Prognosen zeigen, dass der Trend zum Großbetrieb zwar weitergeht, sich aber stark verlangsamt hat. Trotzdem: Bis 2040 werde die Anzahl der Höfe auf rund 100.000 Betriebe sinken, schätzt der DZ-Bank-Branchenexperte Claus Niegsch. Er sieht den bäuerlichen Familienbetrieb zunehmend vor dem Aus.

„Die Hälfte der Betriebsleiter hat Stimmungsaufheller benutzt“

Das Höfesterben hat viele Gründe. Unsichere Hofnachfolge hat oft mit fehlenden Perspektiven und mangelnder Attraktivität des Berufs Landwirt zu tun. Viele Kinder wollten heutzutage nicht unbedingt den Eltern folgen. Und auch umgekehrt, sagt Christian Vieth: Nicht wenige Landwirte raten ihren Kindern von der Nachfolge ab.“

Viele Betriebsleiter hätten ein Burn-Out, auch schon in jungem Alter: „Die Hälfte der Betriebsleiter, die ich im Januar und Februar dieses Jahres beraten habe, hat Stimmungsaufheller benutzt“, sagt Vieth. „Der Druck in der Landwirtschaft ist wahnsinnig groß.“ Ein zentrales Problem seien zudem die niedrigen Erzeugerpreise.

Mehr als ein Nebenjob

Gerd ist viel mehr als eine Aushilfe auf dem Hof der Fangmanns. Fast jeden Tag ist er hier, geht durch die Ställe, hat ein Auge auf die Tiere. In fest geschnürten Arbeitsschuhen läuft Gerd aus dem Hühnerstall quer über das Gelände. Im Vorbeigehen achtet er auf Details: „Hier, muss dringend die Stalltür gestrichen werden.“ Oder: „Da, der Zaun, steht nicht ganz gerade.“

Wenn im Hühnerstall die automatische Fütterung nicht funktioniert, wird er direkt als Zweiter angerufen, falls Hofbesitzerin Sabrina Fangmann selbst nicht rangeht. Manchmal schickt er seiner Chefin nachts Nachrichten mit Ideen oder To-Dos für den Hof. „Er braucht immer etwas zu tun“, sagt Fangmann über den 21-Jährigen.

Er schwingt sich auf den Traktorsitz, startet den Motor und steuert zurück zum Hof. Es gibt Mittag. Auf der gewachsten Tischdecke steht ein dampfender Topf mit den selbstangebauten Pellkartoffeln, durch das Fenster sieht man auf der anderen Straßenseite Kühe auf der Weide grasen.

Gerd Böker und Sabrina Fallmann sitzen am Mittagessenstisch.

Aus dem ganzen Haus kommt die Familie Fangmann und versammelt sich um den Esstisch, drei Generationen vereint – Sabrina Fangmann, ihr Vater, ihre Kinder – inklusive Gerd als „Bonus-Enkel“. Die Fangmanns sind Gerds zweite Familie, nicht blutsverwandt, sondern ausgesucht. Zu seinen Eltern selbst hat er wenig Kontakt, er ist der Einzige unter seinen vier Geschwistern, der in der Landwirtschaft arbeitet.

„Man muss dafür leben“

Auch wenn der eigene Hof noch fehlt, einen Traktor hat Gerd sich schon gekauft. „GB“ steht auf dem Kennzeichen – für Gerd Böker. Ein Oldtimermodell in tiefrot. Dabei sei ein grüner Traktor „natürlich“ der Beste sagt er. „John Deere“, bei der Marke leuchten seine Augen auf. Der Auspuff knattert laut, als Gerd den Traktor aus der Garage fährt – aber nicht, ohne zuerst den originalen, verrosteten Auspuff dranzuschrauben.

Mit 21 Jahren könnte Gerd stattdessen auch reisen, Praktika machen, in den Tag leben oder vormittags in seiner Werkstatt sitzen und nachmittags am See die Seele baumeln lassen. „Meine Freunde schauen mich schief an, wenn ich sage, ich muss Sonntag morgens in den Stall, während alle noch im Bett liegen,“ sagt er.

Seine Motivation hat er sogar in seinem WhatsApp-Status eingetragen: Landwirtschaft ist Leidenschaft. „Ich hab da richtig Bock drauf“, sagt er mit einem breiten Grinsen, „man muss dafür leben, das kann man schlecht beschreiben.“

Umso wohler fühlt er sich in seinem kleinen, eigenen Reich auf dem Hof der Fangmanns: Seiner Werkstatt. Hier schraubt und werkelt er – von Stallvorrichtungen bis zum Motor seines E-Bikes: „Man muss sich ja immer zu helfen wissen.“ Zangen, Nägel und Schrauben in allen Größen stapeln sich auf dem Werktisch, Arbeitshandschuhe liegen parat. Aus einer Holzschublade kramt er ein Ersatzteil einer Stalltür, das er kürzlich repariert hat.

Gerd bringt auf dem Hof seine Ideen ein, gemeinsam setzen sie sie um. Den Betrieb zu übernehmen, ist für ihn gerade keine Option, denn Sarbina Fangmann wird den Hof voraussichtlich noch lange weiter führen. Dann werden ihre Kinder vermutlich den Hof übernehmen. „Am liebsten möchte ich jetzt etwas finden, sich kennenlernen, zusammenarbeiten, dort angestellt sein und dann fest einsteigen“, sagt der 21-Jährige.

Dass die Übergabe für einige Betriebsleiter nicht so einfach ist, hat er bereits gemerkt. Ein Interessent wollte ihm am Telefon nicht seinen vollen Namen nennen, pochte fast sekündlich auf Diskretion, sprach mit gedrückter Stimme. „Als ich ankam, war er total nervös“, erinnert sich Gerd.

Außerfamiliäre Hofnachfolge ist oft noch schambehaftet. Öffentlich zu sagen, dass man einen Nachfolger außerhalb der Familie suche, weil die Kinder nicht wollen oder es keine Kinder gibt, das sei „wie ein Outing vor den Eltern“, sagt Hofbesitzerin Sabrina Fangmann. „Was man erbt, das hält man – das ist hier eigentlich ein Grundgesetz.“ Die Haltung sei bei vielen älteren Landwirten noch tief verwurzelt, bei jetzigen Generation verändere sich die Mentalität aber spürbar.

Gerd sucht einen Hof im Landkreis Cloppenburg. Hier haben 57,2 Prozent der Betriebe keine gesicherte Nachfolge.

In ganz Deutschland suchen Bauernhöfe eine Nachfolge – vor allem in Rheinland-Pfalz, im Norden Baden-Württembergs, Thüringen und Brandenburg.

Im Süden Bayerns fällt das Problem regional am geringsten aus – doch selbst hier sucht mehr als jeder dritte Hof eine Nachfolge.

Höfesterben oder Strukturwandel?

Der Agraringenieur Bernhard Forstner rät, die Entwicklung zu größeren Betrieben positiv zu sehen. Er forscht im Bereich Betriebswirtschaft am Thünen-Institut, das vom Bund finanziert wird. Den Begriff „Höfesterben“ lehnt Forstner ab. Das klinge „morbide“ und „nach Tod“, obwohl eine lang überlegte, unternehmerische Entscheidung hinter einer Hofaufgabe stecke.

Dabei sei es ein „natürlicher, gewollter Prozess in einer wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft“, eine „Anpassung an die Rahmenbedingungen“. Der Begriff „Strukturwandel“ sei daher treffender. Er beschreibt aus ökonomischer Perspektive den Trend – Kritiker sagen, das kaschiere, was auf emotionaler Ebene passiert.

Der Kulturanthropologe Thomas Schürmann forscht am kulturanthropologischen Institut Oldenburger Münsterland über Landwirte und sagt: „Chancen sehe ich gar nicht.“ Er denkt vor allem an Landwirte, die den Hof schließen müssen: „Am Ende hat einer nach jahrhundertelanger Tradition die undankbare Aufgabe, das Licht auszumachen.“ Diesen Moment will Gerd verhindern.

Sabrina Fangmann ist optimistisch, dass Gerd die Herausforderungen eines eigenen Hofs gut meistern wird: „Ich glaube Newcomer haben da manchmal bessere Chancen, die bringen neue Perspektiven, sind noch nicht vorbelastet.“

Wenn er sich seine Zukunft malen könnte, dann wünscht Gerd sich zu seinem Hof eine Familie. Eine Frau und zwei Kinder – am allerliebsten wäre ihm, wenn sie genauso für die Landwirtschaft brennen wie er und eines Tages seinen Betrieb übernehmen. Aber bis dahin ist noch Zeit.

In rund 10 Monaten ist Gerd fertig mit der Fachschule. Dann kann’s richtig losgehen. Vielleicht war bis dahin auch schon ein Hof-Besuch erfolgreich.